Körperverletzung mit Todesfolge? BGH, Beschluss vom 23. Februar 2021, Az.: 3 StR 488/20
Das Landgericht hat die Angeklagte wegen versuchten Totschlags ʺdurch Unterlassenʺ in Tateinheit mit Körperverletzung mit Todesfolge ʺdurch Unterlassenʺ zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt. Dagegen wendet sich die Angeklagte mit ihrer auf die Rügen der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge Erfolg.
Das Urteil
- Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Mönchengladbach vom 13. August 2020 mit den Feststellungen aufgehoben.
- Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Sachverhalt
Das Landgericht hat zum Tatgeschehen im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:
Die Angeklagte lebte mit ihrem Ehemann sowie ihrer 2015 geborenen Tochter und ihrem am 18. Mai 2017 geborenen Sohn L. – dem späteren Tatopfer – in einer gemeinsamen Wohnung. Während ihr Ehemann beruflich bedingt den ganzen Tag über außer Haus war, oblagen der nicht erwerbstätigen Angeklagten die Betreuung der Kinder und die Haushaltsführung. Mit beidem war sie spätestens ab Anfang 2019 überfordert, zumal sie sich nach einer überstandenen Krebserkrankung durchgängig müde, geschwächt und antriebslos fühlte sowie psychisch stark belastet war. Sie litt unter einem „Fatigue-Syndrom“ und befand sich nicht ausschließbar in einer schweren depressiven Episode. Die Angeklagte kümmerte sich nicht mehr um eine ordnungsgemäße Körperpflege und nötige Bekleidungswechsel ihrer Kinder. Sie ließ diese teilweise bis nachmittags in ihren Betten liegen und brachte ihre Tochter nicht mehr regelmäßig in den Kindergarten; anstehende Untersuchungstermine ihrer Kinder beim Kinderarzt nahm sie nicht wahr. Die Wohnung verdreckte und vermüllte massiv; von ihr in der Wohnung gehaltene Ratten vermehrten sich unkontrolliert. Auch ihre eigene Körperpflege vernachlässigte die Angeklagte.
Am Abend des 14. April 2019 legte die Angeklagte ihren damals knapp zwei Jahre alten Sohn bekleidet mit Unterwäsche, T-Shirt und Strumpfhose in einem Schlafsack in sein Bett in seinem Kinderzimmer. Bedingt durch den Schlafsack konnte das Kind – was die Angeklagte wusste – das Bett nicht ohne weiteres eigenständig verlassen. Weil die Heizung ausgefallen war, hatten die Angeklagte und ihr Ehemann neben dem Bett einen Heizlüfter aufgestellt. Der Ehemann der Angeklagten schaltete das Heizgerät an diesem Abend mit Wissen der Angeklagten auf höchster Stufe ein, so dass es fortan mit voller Kraft lief.
Anschließend kümmerte sich die Angeklagte nicht mehr um L.. Zwar vernahm sie am Morgen des 15. April 2019 gegen 10:00 Uhr Lautäußerungen des Kleinkindes, sah aber nicht nach diesem und versorgte es nicht. Als ihr Ehemann am Abend nach Hause kam und sich nach den Kindern erkundigte, teilte sie ihm mit, diese schliefen bereits. Zwar fühlte sie sich „mies“, weil sie den ganzen Tag über nicht nach ihrem Sohn geschaut hatte, doch begab sie sich weiterhin nicht in das Kinderzimmer.
Am nächsten Tag, dem 16. April 2019, wurde die Angeklagte gegen 10:00 Uhr wach. Zwar machte sie sich spätestens jetzt Sorgen, dass L. etwas passiert sein könnte, rauchte aber erst einmal eine Zigarette, frühstückte und setzte sich an ihren Computer.
Zwischen 11:00 Uhr und 12:00 Uhr begab sich die Angeklagte dann erstmals in das mittlerweile völlig überhitzte Zimmer ihres Sohnes. Dort stellte sie fest, dass L. leblos in seinem Bett lag. Sie realisierte sogleich, dass er verstorben war, verständigte den Rettungsdienst und begann unter telefonischer Anleitung der Rettungsleitstelle mit Reanimationsversuchen. Die eintreffende Notärztin konnte jedoch nur noch den Tod des Kindes feststellen. Die Leiche wies nicht nur Leichenflecken und Leichenstarre auf, sondern war zudem teilweise mumifiziert. Todesursächlich waren übermäßige Hitzeeinwirkung und erheblicher Flüssigkeitsmangel.
Den exakten Todeszeitpunkt hat die Strafkammer nicht festzustellen vermocht. Sachverständig beraten hat sie den Todeszeitpunkt lediglich dahin eingegrenzt, dass L. am Morgen des 15. April 2019 gegen 10:00 Uhr, als die Angeklagte Lautäußerungen aus dem Kinderzimmer wahrnahm, noch lebte, er frühestens unmittelbar danach verstarb und jedenfalls am Morgen des 16. April 2019, als die Angeklagte gegen 10:00 Uhr aufwachte, bereits verstorben war.
Urteilsgründe
Die Verfahrensrüge entspricht nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO und ist deshalb unzulässig. Dagegen führt die erhobene Sachrüge zur Aufhebung des Schuldspruchs.
- Die Verurteilung der Angeklagten wegen versuchten Totschlags durch Unterlassen gemäß § 212 Abs. 1, § 13 Abs. 1, §§ 22, 23 Abs. 1 StGB begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Denn die Annahme eines bedingten Tötungsvorsatzes der Angeklagten wird von der Beweiswürdigung nicht getragen.
- a) Bedingter Tötungsvorsatz ist gegeben, wenn der Täter den Tod als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Handelns erkennt (Wissenselement) und dies billigt oder sich um des erstrebten Ziels willen zumindest mit dem Eintritt des Todes eines anderen Menschen abfindet, mag ihm der Erfolgseintritt auch gleichgültig oder an sich unerwünscht sein (Willenselement). Ob ein Täter nach diesen rechtlichen Maßstäben bedingt vorsätzlich gehandelt hat, ist in Bezug auf beide Elemente im Rahmen der Beweiswürdigung umfassend zu prüfen und durch tatsächliche Feststellungen zu belegen. Diese Grundsätze gelten sowohl für Begehungsdelikte als auch für Unterlassungstaten.
- b) Die Strafkammer hat ihre Würdigung, dass die Angeklagte den erforderlichen Tötungsvorsatz hatte, auf folgende Erwägungen gestützt:
- aa) Für einen Tötungsvorsatz der Angeklagten zu Lebzeiten L.s, also vor dem frühesten möglichen Todeszeitpunkt (15. April 2019 gegen 10:00 Uhr), habe die Beweisaufnahme keinen Nachweis erbracht. Bis zu diesem Zeitpunkt habe keine offensichtliche Lebensgefahr vorgelegen. Somit könne nicht ausgeschlossen werden, dass die Angeklagte jedenfalls bis dahin darauf vertraut habe, ihr Sohn habe sich ungeachtet des Umstandes, dass er in einem Schlafsack im Bett gelegen habe, in dem Kinderzimmer ein Heizlüfter gelaufen sei und das Kind seit dem vergangenen Abend nichts getrunken gehabt habe, nicht in Lebensgefahr befunden habe.
- bb) Spätestens als die Angeklagte am 16. April 2019 gegen 10:00 Uhr aufgewacht sei, habe sie dagegen die Versorgung ihres Sohnes mit bedingtem Tötungsvorsatz unterlassen. Da L. zu diesem Zeitpunkt bereits tot gewesen sei, habe sich die Angeklagte – bezogen auf den Morgen des 16. April 2019 – wegen eines untauglichen Versuchs des Totschlags durch Unterlassen strafbar gemacht.
Zur Begründung der Annahme eines bedingten Tötungsvorsatzes zu diesem Zeitpunkt hat die Strafkammer ausgeführt, die Angeklagte habe sich dahin eingelassen, sie habe sich bis zuletzt nicht vorgestellt, dass L. durch ihre Untätigkeit versterben könne; sie vermute, sie habe darauf vertraut, dass alles gut und es nicht schlimm sei, wenn sie sich erst später um L. kümmere. Dem halten die Urteilsgründe entgegen, der Angeklagten „musste (…) spätestens am Morgen des 16.04.2019 bewusst sein, dass das weitere Unterlassen jeglicher Versorgung (…) für ihren Sohn lebensgefährlich war“. Nach ihren eigenen Angaben gegenüber der Polizei habe sie sich nach dem Aufwachen Sorgen um ihren Sohn gemacht, gleichwohl aber erst geraucht, gefrühstückt und sich an den Computer gesetzt und erst später L. s Zimmer betreten. Zu diesem Zeitpunkt, so die Urteilsbegründung, „durfte“ die Angeklagte nicht mehr davon ausgehen, dass sich L. bemerkbar machen oder versuchen würde, sein Bett zu verlassen. Sie „musste“ in Rechnung stellen, dass er aufgrund der langen Zeit, die er unversorgt war, nicht mehr in der Lage war, auf sich aufmerksam zu machen.
- c) Diese Ausführungen belegen das Willenselement des bedingten Tötungsvorsatzes nicht, denn sie zeigen nicht auf, wovon die Angeklagte tatsächlich subjektiv ausging. Die gewählten Formulierungen („musste“, „durfte nicht“) beschreiben lediglich, was von ihr nach Auffassung der Strafkammer von Rechts wegen erwartet wurde.
Zwar heißt es in den Urteilsgründen weiter, die Angaben der Angeklagten im Rahmen ihrer polizeilichen Vernehmung, sie habe sich Sorgen um ihren Sohn gemacht, „sprechen dafür, dass sie jedenfalls ab dem 16.04.2019 auch tatsächlich nicht mehr ernsthaft auf einen guten Ausgang vertraut hat“. Jedoch hat die Strafkammer nicht dargelegt, weshalb sie aus der Einlassung der Angeklagten, sich Sorgen gemacht zu haben, auf eine billigende Inkaufnahme des Todes des Kindes geschlossen hat. Dies wäre jedoch geboten gewesen, weil auch erhebliche Sorgen um den Gesundheitszustand eines anderen Menschen mit der ernsthaften Hoffnung einhergehen können, der Betreffende werde nicht versterben.
Die Sache bedarf deshalb neuer Verhandlung und Entscheidung. Der Senat hebt die Feststellungen insgesamt auf, um dem neuen Tatgericht umfassende und widerspruchsfreie Feststellungen zum gesamten Tatgeschehen sowohl in objektiver als auch in subjektiver Hinsicht zu ermöglichen.
- Für die neue Hauptverhandlung und Entscheidung ist ergänzend auf Folgendes hinzuweisen:
- a) Als rechtsfehlerhaft erweist sich auch die Wertung der Strafkammer, die Angeklagte habe sich – in Tateinheit zum versuchten Tötungsdelikt – wegen Körperverletzung mit Todesfolge durch Unterlassen gemäß § 227 Abs. 1, § 13 Abs. 1 StGB strafbar gemacht.
- aa) Diese Würdigung hat das Landgericht auf folgende Erwägungen gestützt: Die Angeklagte habe bereits vor dem frühestmöglichen Todeszeitpunkt, also vor dem 15. April 2019 gegen 10:00 Uhr, die gebotene Versorgung L. s unterlassen. Deshalb sei dessen körperliche Unversehrtheit bereits zu Lebzeiten durch die fortdauernde Hitzeeinwirkung und unterbleibende Flüssigkeitszufuhr erheblich beeinträchtigt gewesen. Diese Gesundheitsbeeinträchtigung ihres Sohnes, die letztlich zu dessen späterem Tod geführt habe, habe die Angeklagte schon vor dem Tod des Kindes für möglich erachtet.
- bb) Insofern liegt ein Erörterungsmangel vor. Denn beim Delikt der Körperverletzung mit Todesfolge muss zwischen der Körperverletzung und dem Tod ein Kausalzusammenhang bestehen; zudem muss sich im tödlichen Ausgang gerade eine solche Gefahr verwirklicht haben, die der Körperverletzung in spezifischer Weise anhaftete („spezifischer Gefahrzusammenhang“). Das Landgericht hätte daher erörtern müssen, welche rechtlich gebotene Versorgungsmaßnahme die Angeklagte wann unterließ, inwieweit ein solches pflichtwidriges Unterlassen zu einem von der Angeklagten dabei zumindest für möglich erachteten und billigend in Kauf genommenen (weiteren) Körperverletzungserfolg – etwa durch Vertiefung oder Verlängerung der gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Kindes – führte und ob der spätere Tod gerade auf diesem pflichtwidrigen Unterlassen beruhte. Wäre das Kind auch dann verstorben, wenn die Angeklagte die rechtlich gebotenen Maßnahmen zur Versorgung ihres Sohnes ergriffen hätte, deren Vornahme sie mit Körperverletzungsvorsatz unterließ, wäre der Tod nicht im Sinne des § 227 Abs. 1 StGB Folge einer von der Angeklagten durch vorsätzliches Unterlassen begangenen Körperverletzung. Sollte das Kind mithin zu dem Zeitpunkt, zu dem die Angeklagte mit Körperverletzungsvorsatz von einem Tätigwerden absah, schon so stark dehydriert und überhitzt gewesen sein, dass es bereits letal geschädigt war und nicht mehr hätte gerettet werden können, wäre eine Strafbarkeit wegen Körperverletzung mit Todesfolge durch Unterlassen nicht gegeben. Es ist nach den bislang getroffenen Feststellungen nicht auszuschließen, dass das Opfer schon zu diesem Zeitpunkt tödlich verletzt war. Denn nach den Urteilsgründen ist es möglich, dass das Kind bereits am Vormittag des 15. April 2019 und damit unmittelbar nach dem Zeitpunkt verstarb, zu dem die Angeklagte es nach der Würdigung der Strafkammer (erstmals) mit Körperverletzungsvorsatz unterließ, tätig zu werden.
- b) Die Strafkammer ist davon ausgegangen, dass die Angeklagte zudem den Straftatbestand der Aussetzung mit Todesfolge in der Variante des echten Unterlassungsdelikts des „Im-Stich-Lassens“ (§ 221 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 3 StGB) verwirklicht hat, dieser aber hinter den versuchten Totschlag zurücktritt, jedoch – weil insofern eine Strafmilderung nach § 13 Abs. 2 StGB ausscheidet – Sperrwirkung sowohl für die Mindest- als auch für die Höchststrafe entfaltet. Sie hat die Strafe deshalb dem – nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB einfach gemilderten – Strafrahmen des § 221 Abs. 3 StGB entnommen. Auch dies begegnet rechtlichen Bedenken.
- aa) Zum einen wird die Verwirklichung dieses Straftatbestandes von den Feststellungen nicht getragen. Die Urteilsgründe zeigen nicht auf, welche konkrete Maßnahme die Angeklagte wann hätte ergreifen müssen, wodurch also das „im Stich lassen“ begründet sein soll. Sie belegen nicht, dass der Tod des Kindes die Folge gerade eines vorsätzlichen Unterlassens einer solchen Maßnahme durch die Angeklagte war; insofern gelten die obigen Ausführungen zum Straftatbestand der Körperverletzung mit Todesfolge entsprechend. Auch ergibt sich aus den Feststellungen nicht, dass die Angeklagte zu Lebzeiten L. s (zumindest bedingten) Vorsatz hinsichtlich der Herbeiführung oder Steigerung der Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsbeschädigung des Kindes hatte, zumal die Strafkammer einen bedingten Tötungsvorsatz vor dem Todeseintritt mit der Erwägung verneint hat, die Angeklagte habe nicht ausschließbar darauf vertraut, ihr Sohn befinde sich nicht in Lebensgefahr.
- bb) Zum anderen geht die Annahme der Strafkammer, der Straftatbestand der Aussetzung mit Todesfolge trete hinter den des versuchten Totschlags zurück, für die vorliegende Fallkonstellation fehl. Insofern gilt ebenso wie für das Verhältnis des Straftatbestandes der Körperverletzung mit Todesfolge zu dem des versuchten Totschlags: Wenn der Tod des Opfers durch ein im Sinne des § 221 Abs. 1 StGB oder § 227 Abs. 1 StGB tatbestandsmäßiges vorsätzliches Verhalten des Täters verursacht wurde, der Täter mit Tötungsvorsatz aber erst agierte, als das Opfer bereits verstorben war, steht eine Strafbarkeit wegen (vollendeter) Aussetzung mit Todesfolge beziehungsweise Körperverletzung mit Todesfolge ausnahmsweise in Tateinheit mit einer Strafbarkeit wegen versuchten Totschlags. Soweit in der Rechtsprechung angenommen wird, der Tatbestand der Aussetzung werde von einem (versuchten) Tötungsdelikt verdrängt, betrifft dies Fälle, in denen der Täter bereits bei der Tathandlung im Sinne des § 221 Abs. 1 StGB Tötungsvorsatz hatte.
Sollten die Straftatbestände der Aussetzung mit Todesfolge (§ 221 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 3 StGB) und der Körperverletzung mit Todesfolge durch Unterlassen (§ 227 Abs. 1, § 13 Abs. 1 StGB) beide verwirklicht sein, stünden auch diese zueinander im Verhältnis der Tateinheit, weil nur damit sowohl der Körperverletzungserfolg als auch die vorsätzliche Herbeiführung der Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsbeschädigung des Opfers im Schuldspruch zum Ausdruck gebracht wird.
Insofern kommt es nicht darauf an, dass die Strafkammer ausgehend von der fehlgehenden Annahme, der Straftatbestand der Aussetzung mit Todesfolge (§ 221 Abs. 1 Nr. 2 und 3 StGB) trete im Wege der Gesetzeskonkurrenz zurück, dessen Strafrahmen Sperrwirkung nicht nur für die Mindeststrafe.