Mord oder Totschlag? BGH, Urteil vom 22. März 2023, Az.: 6 StR 324/22
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren und sechs Monaten verurteilt und eine Einziehungsanordnung getroffen. Dagegen wenden sich die Staatsanwaltschaft und die Nebenklägerin mit ihren jeweils auf die Sachbeschwerde gestützten Revisionen. Sie beanstanden die unterbliebene Verurteilung wegen Mordes. Beide Rechtsmittel haben Erfolg.
Das Urteil
Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin wird das Urteil des Landgerichts Neuruppin vom 22. Februar 2022 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Sachverhalt
Nach den Feststellungen waren der Angeklagte und das Tatopfer S. mehrere Monate ein Paar. Nach ihrer Trennung im September 2020 führten beide über Monate eine „On-Off-Beziehung“, in der es sowohl zu Sexualkontakten als auch immer wieder zu Streitigkeiten kam. Während die Geschädigte in dieser Zeit versuchte, die Beziehung neu aufleben zu lassen, distanzierte sich der Angeklagte innerlich von ihr und fühlte sich durch ihre fortgesetzten Annäherungsversuche zunehmend genervt und gestresst. Zur selben Zeit unterhielt er eine Beziehung zu einer anderen Frau, beobachtete gleichwohl das Verhalten der Geschädigten argwöhnisch und – mit Blick auf Anzeichen für Kontakte zu anderen Männern – zunehmend eifersüchtig.
Bei einem Treffen im Juni 2021, das die Geschädigte für eine Aussprache nutzen wollte, trat der Angeklagte ihr mit solcher Aggressivität entgegen, dass ihr ebenfalls anwesender Bruder eingriff, weil er Handgreiflichkeiten befürchtete. Der Angeklagte beleidigte sie als „Schlampe“ und erklärte ihre Beziehung zum wiederholten Male für beendet. Dies nahm die Geschädigte hin, akzeptierte es aber nicht.
Nach mehreren zwischenzeitlichen Kontakten holte der Angeklagte wenige Tage vor der Tat Kleidungsstücke bei der Geschädigten ab. Auch hier unternahm diese abermals den Versuch einer klärenden Aussprache. Der Angeklagte war hierzu indes nicht bereit. Als die Geschädigte trotz seiner „wachsenden Erregung“ und einer entsprechenden Aufforderung nicht zur Seite trat, stieß er sie gegen eine Kellertür. Am Folgetag schickte er ihr Sprachnachrichten und machte ihr darin abermals Vorhalte zu ihrem Lebenswandel. Weiter erklärte er, dass er ihr schon früher gesagt habe, dass sie ihn gehen und in Ruhe lassen solle, wenn er dies verlange. Sie habe ihn trotzdem nicht gehen lassen, deshalb habe er sie, „um Schlimmeres zu verhindern“, am Vortag geschubst. Dafür könne er nichts.
In den folgenden Tagen versuchte die Geschädigte, sich mit der endgültigen Trennung abzufinden, und kündigte gegenüber Freunden an, ein neues Leben anfangen zu wollen. Zu keiner Zeit vermochte es der Angeklagte, ihr „klipp und klar“ zu sagen, dass er „sie oder die Beziehung zu ihr satthabe, seine Zukunft von sofort an ohne sie plane“ und den Kontakt zu ihr abbreche. Stattdessen erhob er jeweils haltlose Vorwürfe, die von der Geschädigten nicht unwidersprochen hingenommen wurden; sie wollte Missverständnisse ausräumen, um die Beziehung zu erhalten.
Nachdem die Geschädigte am Tattag Freunde getroffen hatte, dabei „fröhlich und guter Laune“ gewesen war und gegen zwölf Uhr wegen eines Arzttermins die S-Bahn genommen hatte, schlug ihre Stimmung um. Sie hatte über ihr Mobiltelefon Nachrichten empfangen, die inhaltlich mit ihrer Beziehung zum Angeklagten im Zusammenhang standen; Näheres vermochte das Landgericht hierzu nicht festzustellen. Die Geschädigte nahm anschließend weder ihren Arzttermin noch eine Dienstbesprechung mit ihrem Arbeitgeber wahr, sondern traf jedenfalls um kurz nach 14 Uhr ein. Gemeinsam mit dem Angeklagten betrat sie durch eine kleine Öffnung einen in der Nähe des Sees gelegenen ehemaligen Bunker der Wehrmacht. Dort rauchten sie und tranken Eistee, wobei es abermals zu einer Auseinandersetzung zwischen ihnen kam.
Spätestens jetzt entschloss sich der Angeklagte, die Geschädigte mittels eines mitgeführten Stechbeitels zu töten. Er sah keine andere Möglichkeit, endgültig von ihr loszukommen, und stach insgesamt sieben Mal auf ihren inzwischen entkleideten Oberkörper ein. Ein Teil der Stiche traf diese auch in Rücken und Nacken. Ein Stich eröffnete die Kopfschlagader, ein anderer durchtrennte das Rückenmark im Bereich des Halses, und zwei weitere Stiche verletzten Rippen- und Lungenfell. Die Geschädigte verstarb infolge der erlittenen Verletzungen.
Das Landgericht hat die Tat als Totschlag gewertet (§ 212 Abs. 1 StGB). Mordmerkmale im Sinne des § 211 StGB hat es nicht festgestellt. Von einer heimtückischen Tötung vermochte es sich nicht zu überzeugen. Feststellungen hätten sich weder zur Reihenfolge der Stichverletzungen noch dazu treffen lassen, dass der Angeklagte sein argloses Tatopfer in den Bunker gelockt haben könnte, um dieses dort zu töten. Deshalb sei zugunsten des Angeklagten als zumindest möglich davon auszugehen, dass er den Plan zur Tötung der Geschädigten erst im Bunker, unmittelbar vor der Tat, gefasst hat.
Urteilsgründe
Die Rechtsmittel führen zur Aufhebung des Urteils.
- Die Beweiswürdigung, mit der das Landgericht das Vorliegen des Mordmerkmals der Heimtücke und demgemäß eine Strafbarkeit wegen Mordes nach § 211 StGB verneint hat, hält materiell-rechtlicher Überprüfung nicht stand.a) Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts (§ 261 StPO). Es hat das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Das Revisionsgericht kann die tatgerichtliche Beweiswürdigung nur auf Rechtsfehler hin überprüfen. Solche liegen in sachlich-rechtlicher Hinsicht vor, wenn die Beweiswürdigung lückenhaft ist, namentlich wesentliche Feststellungen nicht berücksichtigt worden sind, naheliegende Schlussfolgerungen nicht erörtert worden sind oder einzelne Beweisanzeichen nur isoliert bewertet worden sind und die gebotene umfassende und erschöpfende Gesamtwürdigung aller Beweisergebnisse unterblieben ist. Ein Rechtsfehler liegt ferner vor, wenn das Tatgericht überspannte Anforderungen an die für eine Verurteilung erforderliche Gewissheit gestellt hat.b) Hieran gemessen erweist sich die Beweiswürdigung hinsichtlich des Mordmerkmals der Heimtücke als lücken- und damit rechtsfehlerhaft.aa) Dabei hat das Landgericht im rechtlichen Ausgangpunkt zutreffend in den Blick genommen, dass bei einer von langer Hand geplanten und vorbereiteten Tat das heimtückische Vorgehen im Sinne des § 211 Abs. 2 StGB auch in Vorkehrungen liegen kann, die der Täter ergreift, um eine günstige Gelegenheit zur Tötung zu schaffen, sofern diese bei der Ausführung der Tat noch fortwirken. Erforderlich, aber auch ausreichend ist es dann, dass der mit Tötungsvorsatz handelnde Täter das Tatopfer im Vorbereitungsstadium der Tat unter Ausnutzung von dessen Arglosigkeit in eine Lage aufgehobener oder stark eingeschränkter Abwehrmöglichkeiten bringt und die so geschaffene Lage bis zur Tatausführung ununterbrochen fortbesteht. Wird das Tatopfer planmäßig in einen Hinterhalt gelockt oder ihm gezielt eine raffinierte Falle gestellt, kommt es daher nicht mehr darauf an, ob es zu Beginn der Tötungshandlung noch arglos war.bb) Bei seiner Prüfung, ob der Angeklagte eine die Abwehrmöglichkeiten seines Tatopfers jedenfalls stark einschränkende Situation dadurch konstellierte, dass es sie veranlasste, mit ihm den Bunker zu betreten, hat das Landgericht jedoch weder alle relevanten Umstände bedacht noch die gebotene Gesamtwürdigung der Beweiszeichen vorgenommen.
(1) Schon das nach den Feststellungen naheliegende Motiv des Angeklagten hat keinen Eingang in die Überzeugungsbildung der Strafkammer gefunden. Der Angeklagte vermochte es nicht, sich vom Tatopfer dauerhaft zu trennen, und „brachte es nicht zustande“, seinen Wunsch umzusetzen, den Kontakt zu diesem abzubrechen. Erwies sich aus Sicht des Angeklagten die Tötung aber als einzige Möglichkeit, um sich endgültig aus der Beziehung zu lösen, liegt es nicht fern, dass er den Tötungsvorsatz bereits zu einem früheren Zeitpunkt und nicht erst im Bunker fasste.
(2) Hierfür spricht auch das Verhalten des Angeklagten am Tattag. Am Vormittag führte er eine Internetrecherche durch, bei der er auch auf den Wehrmachtsbunker hingewiesen wurde, und hielt sich jedenfalls vormittags in der Nähe des Tatortes auf. Nicht in Bedacht genommen hat das Landgericht darüber hinaus, dass der Angeklagte dabei bereits den Stechbeitel – die spätere Tatwaffe – in einem Kunststoffholster mit sich führte, obgleich er an diesem Tag Urlaub von seiner Tätigkeit als Auszubildender in der Holzbearbeitung hatte.
(3) Ferner hat das Landgericht Äußerungen und früheres Verhalten des Angeklagten rechtsfehlerhaft unberücksichtigt gelassen. So war er zuvor aggressiv gegenüber dem späteren Tatopfer aufgetreten und teilweise sogar handgreiflich geworden. Einen körperlichen Übergriff rechtfertigte er mit der Äußerung, er habe damit „Schlimmeres zu verhindern“ gesucht.
- c) Vor diesem Hintergrund und mit Blick auf die überraschend veränderte Stimmung des späteren Tatopfers sowie dessen anscheinend spontan geänderte Tagesplanung am Tattag erweist sich auch die Annahme der Strafkammer, es sei zugunsten des Angeklagten „als zumindest möglich davon auszugehen“, dass er den Tatentschluss erst im Bunker gefasst habe, als rechtsfehlerhaft, weil es an der dafür erforderlichen tatsächlichen Grundlage fehlt. Es ist weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zu Gunsten eines Angeklagten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat.
- Das Urteil beruht auf den aufgezeigten Rechtsfehlern (§ 337 Abs. 1 StPO). Es ist nicht auszuschließen, dass das Landgericht den Angeklagten wegen Mordes verurteilt hätte, wenn es die Beweise rechtsfehlerfrei gewürdigt und auch die tatsächlichen Umstände im Vorbereitungsstadium der Tat bei der Beurteilung des Vorliegens des Mordmerkmals der Heimtücke in den Blick genommen hätte.
- Die Sache bedarf daher erneuter Verhandlung und Entscheidung. Der Senat hebt die Feststellungen insgesamt auf (§ 353 Abs. 2 StPO), damit das neue Tatgericht umfassende und widerspruchsfreie eigene Feststellungen treffen kann, und bemerkt ergänzend:
- a) Das neue Tatgericht wird Feststellungen zum Vorliegen von Abwehrverletzungen – als gewichtige Beweiszeichen für die Frage der Arglosigkeit des Tatopfers – zu treffen haben.
- b) Das neue Tatgericht wird vor dem Hintergrund der neu zu treffenden Feststellungen insbesondere zum Tatablauf Gelegenheit haben, das Mordmerkmal der sonst niedrigen Beweggründe eingehender als bisher geschehen in den Blick zu nehmen.
- c) Sollte sich das neue Tatgericht ebenfalls auf Erkenntnisse aus DNA-Vergleichsgutachten stützen, sind die hierfür bestehenden sachlich-rechtlichen Anforderungen zu beachten.
- d) Nach § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO nicht gestattete Bezugnahmen auf Urkunden, die sich in der Sachakte befinden, können den Bestand des Urteils gefährden. Denn jedes Strafurteil muss aus sich heraus verständlich sein (§ 267 Abs. 1 Satz 1 StPO).